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Vom Heilerziehungsheim zur Rudolf Steiner Schule

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von Siegfried Pickert

Aus kleinen Anfängen, so klein wie der heutige Besucher nicht ohne weiteres vermuten kann, ist der Arbeits- und Lebensbereich von Schloß Hamborn hervorgewachsen. Viele Opfer, liebevoll von vielen Menschen in aller Stille durch lange Zeit gebracht, bilden das Fundament. Aber dieses gründet sich auf das Lebenswerk Rudolf Steiners (1861 bis 1925), das bis zum letzten Atemzug des Schöpfers der Anthroposophie der Erneuerung menschlicher Kultur auf allen Lebensgebieten gewidmet war. Wenn wir im Frühjahr 1957 auf den Hamborner Anfang vor einem Vierteljahrhundert zurückblicken dürfen, wendet sich die dankbare Erinnerung zugleich zu einem stillen Geschehen, das sich vor 33 Jahren, am 18.6.1924, in einem schlichten Vorstadt-Gasthaus von Jena, dem „Lauenstein“ zutrug: Rudolf Steiner ist auf der Rückreise von Schlesien, wo er in einem Kurs vor Landwirten neue Methoden des Landbaues entwickelte, aus denen die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise erwachsen ist, wo er zugleich vor anthroposophischen Freunden eine Vortragsreihe über menschliche Schicksalsführung und Schicksalserkenntnis hielt. Der Rückweg geht über Stuttgart, wo neben vielen anderen Fragen der Führung der freien Waldorfschule und pädagogische Probleme dringend auf seine ordnende Hand warten, nach Dornach, wo wiederum neben vielem anderen die Weltaufgaben der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, der Aufbau der freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die Arbeit an dem grundlegenden medizinischen Buch, das gemeinsam mit der ärztlichen Freundin Dr. Ita Wegman geschrieben wird, auf ihn warten. In dieser drängenden Arbeitsfülle wird ein voller Tag ausgespart, um das noch ganz in primitiven Anfängen steckende Heim für entwicklungsbehinderte, schwererziehbare Kinder zu besuchen. „Seelenpflege-bedürftig“ hatte er sie kurz zuvor genannt und damit den jungen Leuten, die für solche Arbeit seinen Rat erbaten, eine Grundrichtung gewiesen. Nun war er selber gekommen, um „an Ort und Stelle mit seinem Rat zu dienen“. Was er äußerlich vorfand, war in jeder Weise unzulänglich: eine kleine Schar dieser Kinder, die eben in dem dürftig ausgestatteten Haus, hoch über der Saale gelegen, eingezogen waren, betreut von einigen jungen Leuten, denen für ihren Beruf noch jede bürgerliche Beglaubigung fehlte. Aber all die äußeren Mängel hinderten nicht die liebevolle Hingabe, die er allen Fragen und Wünschen entgegenbrachte. Er, dessen schöpferischer Geist allezeit den Sphären des Wahren, Schönen und Guten zugewandt war, schien in jenen Stunden keine andere Aufgabe zu kennen, als sich diesen schicksalsbedrängten Kindern und ihren Betreuern zu widmen. Jedes Kind ließ er sich vorstellen und befaßte sich liebevoll interessiert mit allen seinen leiblich-seelischen Äußerungen. Keine Einzelheit erschien dabei unwichtig, der Haarwuchs, die Schädelbildung, die Eigenart der Fingernägel, die Handschrift, die Sprache, der Gang, längst vergessene frühere Erkrankungen usw. — Der so gewonnenen umfassenden Diagnose folgte dann der therapeutische Rat: bestimmte Medikamente, Übungen in Heileurythmie, Sprachgestaltung, Winke für den Unterricht oder die Tagesbeschäftigung des Pfleglings. Die methodische Zusammenfassung wurde dann im „Heilpädagogischen Kurs“ gegeben, den Rudolf Steiner eine Woche später im Rahmen der medizinischen Sektion am Goetheanum in Dornach begann. Damit wird der Lebenskeim für eine Arbeit gelegt, die sich in den folgenden Jahren zum Segen für zahllose kranke Kinder in aller Welt entwickeln kann. An jenem Tage sitzt der nie ermüdende Geisteslehrer mit den kranken Kindern und den werdenden Heilpädagogen gemeinsam am Mittagstisch, spricht segnend das Amen zu dem Tischgebet. Das Haus und das gesamte Grundstück werden eingehend besichtigt, für die Belebung des Gartens ein Wink gegeben, zwischenhinein Schnurren und Späße aus dem alten Jena erzählt, die sinngemäße Tageseinteilung für die Kinder besprochen, für die führende Arbeit Richtlinien gegeben. Als am vorgerückten Nachmittag Rudolf Steiner mit seinen Begleitern zur Weiterfahrt aufbricht, ahnt niemand, daß all diese Gaben den letzten Lebenskräften abgerungen waren.
Sieben Jahre später sind in verschiedenen Ländern Europas eine ganze Reihe von Heil- und Erziehungs-Instituten für Seelenpflege-bedürftige Kinder entstanden. Unter der freien und freilassenden Initiative von Dr. Ita Wegmann haben sich die heilpädagogischen Methoden entfaltet und vervollkommnet. Neben Arzten und Heilpädagogen haben sich auch Künstler und Werktätige zur therapeuthischen Arbeit hinzugesellt. In Eurythmie, Musik, Gesang, Sprachgestaltung, Malen und Handwerk sind Menschen bemüht, durch besondere Übung an der Förderung der anvertrauten kranken Kinder zu arbeiten. Schöne Erfolge stellen sich ein auch in „hoffnungslosen“ Fällen und, wo kein äußerlich sichtbarer Fortschritt mehr erreicht werden kann, ist es doch möglich, auch der eingeschränktesten, hilflosesten Existenz einen Schein von Menschenwürde zu verleihen. Zu den Landesjugendämtern und anderen Jugend-Fürsorgestellen bahnten sich Verbindungen an. Aus den Großstädten wurden „milieugeschädigte“ Kinder in großer Zahl den Lebensstätten für Seelenpflege-bedürftige Kinder anvertraut. Der Lauenstein in Jena war längst zu klein geworden, schon zweimal hatte er einen großen Kindertrupp zur Begründung eines neuen Heimes abgegeben. Am 15. 12. 1931 führte die „Kolonisierung“ den dritten Trupp nach Schloß Hamborn. Damit traten nun an diese heilpädagogische Arbeit umfangreiche vielseitige Aufgaben heran, die sich allmählich in der Zielsetzung des Sozialen Hilfswerks Schloß Hamborn zusammenfaßten. Eine große Landwirtschaft, ein umfangreicher Forst war zu übernehmen, eine Gärtnerei neu einzurichten. Es war selbstverständlich, daß die uns anvertraute Erde so bebaut und gepflegt wurde, wie es in großen Leitideen Rudolf Steiner zum Wohl von Mensch, Tier und Pflanze als ein Vermächtnis im landwirtschaftlichen Kurs entwickelt hatte. Im Lebensbereich der pflegebedürftigen Kinder tauchten die Werktätigen auf, die in ihrer Umgebung wirkten und schafften. Es knüpfte sich manche Verbindung zu Erholungsgästen, die in der schönen Natur Stärkung suchten und wohl auch im Betrachten eines rätselhaften Menschenschicksals bewegte innere Anregung fanden. In froher Lebensgemeinschaft waren alle Arbeitsbereiche zusammenzuwirken bemüht. Im individuellen Streben nach gemeinschaftlichen Zielen wuchsen die Kräfte zusammen.
Im Rückschauen auf den heilpädagogischen Impuls, wie er sich nun im Hamborner Lebensbereich entfaltete, taucht das Bild von „Friedland“ auf, verwoben mit dem Schicksal einer Menschengruppe, die zum großen Teil schon die Todesschwelle überschritten hat. Da war eine Abteilung schwerstbehinderter Kinder und Jugendlicher, die besonders von Annemarie Leonhardt und Käthe Reuter gepflegt und geführt wurde. Es war eine schwierige Aufgabe, welche unaufhörlich den stärksten Einsatz erforderte, ohne daß ein äußerlich erkennbarer, wesentlicher Fortschritt erhofft werden konnte, gewiß eine Arbeit, die erst in künftigem Dasein für Pfleger und Gepflegte ihre Früchte zeitigen wird. Annemarie Leonhardt hatte ihrem verkrüppelten Körper in beglückendem Maße die Fähigkeit abgerungen, heileurythmisch zu wirken. Aus geistgetragenem Heilerimpuls wurde sie vielen Helfer und Beistand. KätheReuter hat in langenJahren treu und unermüdlich manch schweresKinderschicksal getragen und trotz aller Hemmnisse gefördert. Beide erstrebten für diese schwierige Gruppe einen eigenen Lebensbereich, in dem sich die Kinder ungestört und ohne andere zu stören, regen und bewegen konnten. Um das zu ermöglichen, beschloß man, in einer abgelegenen Waldlichtung einen besonderen Garten einzurichten. Mit unsäglicher Mühe gelang es dieser Kindergruppe mit ihren Betreuern, in eigener Arbeit „Friedland“ zu schaffen. Es wurde mit heiligem Eifer gerodet, gehackt, gegraben, gepflanzt, umzäunt, eine kleine Schutzhütte errichtet, und in der Einsamkeit des Waldes entstand aus völliger Wildnis richtiges Gartenland, dessen schöne Furchtbarkeit allen unguten Geistern Einhalt gebot. Hatte Rudolf Steiner auf dem Lauenstein geraten, allen Kindern ein gemüthaftes Verhältnis zum Leben und Weben der Natur zu erschließen, so war hier in einem schönen Gemeinschaftswerk dieses Wort beispielhaft verwirklicht und die strahlenden Augen der Pfleglinge waren bester Lohn und Dank.
Solches geschah im still umgrenzten Hamborner Lebensraum, während in der Welt die politische Diktatur auf allen Gebieten mehr und mehr ihr Unwesen entfaltete. Immer klarer wurde, daß es diesen Gefahren gegenüber kein Ausweichen gab. Durch offenes Verhandeln mit menschlich gestimmten, einsichtsvollen Persönlichkeiten, die auch unter den braunen Machthabern zu finden waren, konnte wohl Zeit gewonnen werden, die noch manchem Hilfebedürftigen wesentlich zugute kam. Zweimal glückte es, ein schon verhängtes Verbot wieder rückgängig zu machen, beim dritten Mal fiel das Leben der freien Hamborner Gemeinschaft der brutalen Staatswillkür zum Opfer.
5 Jahre später konnte auf den Trümmern, welche der Zusammenbruch dieser Gewalten hinterließ, ein neuer Beginn gewagt werden. Freilich mancher schwere Verlust, den die Kriegsjahre gebracht hatten, trat mit schmerzlicher Klarheit zutage. Walter Hoffmann,der seine musikalische Kunst durch lange Jahre ganz in den Dienst der heilenden Arbeit und der Pflege des Gemeinschaftslebens gestellt hatte, war in Italien gefallen. Adolf Ammerschläger, der im Kriege die schwierige Aufgabe der Wirtschaftsführung übernommen hatte, was ihm 9 1/2 Monate Gestapohaft einbrachte, gab in Rußland sein Leben hin als Sanitäter beim Einladen von Verwundeten. Annemarle Leonhardt und Käthe Reuter, die beiden Begründerinnen von „Friedland“, wurden 1947 kurz nach einander abberufen, als wir gerade zum Neubeginn der Arbeit in größerem Umfang vorschreiten konnten.

Wir bedürfen hier zum Erdenwerke
starker Kraft aus Geisteslanden,
die wir toten Freunden danken.“
(Rudolf Steiner)

Ein Teil der früheren Mitarbeiter hatte sich an anderer Stelle bereits zu heilpädagogischer Aufgabe neu zusammengefunden, wir blieben mit ihnen in nächster Verbindung. Die heilpädagogische Arbeit in Hamborn unmittelbar wieder aufzunehmen, war zunächst unmöglich. Neue Kräfte, Lehrer und Erzieher fanden sich ein, die nun beim Aufbau des Landschulheims, der Internatsschule, mitwirkten. Sehr deutlich zeigte sich, wie heilende, harmonisierende Kräfte auch für diese scheinbar gesunde Jugend notwendig sind. In den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit waren so viele Kinderschicksale auf die äußerste Probe gestellt worden. Bombenschocks, Russengreuel, Vetriebenennot und die sonstigen Auswirkungen politischer Gewahtmaßnahmen des einen oder anderen Systems, KZ, Sippenhaft, Kriegsgefangenschaft, Kriegsverbrecherprozesse: vielfach waren es die Kinder, welche unschuldigerweise den meisten Schaden davontrugen. Viele Jahre hat es gedauert, bis diese Probleme zurücktraten. Jetzt sind es mehr die Schwierigkeiten des Überflusses, des Wirtschaftswunders, der totalen Technisierung, der starren Form eines überintellektuellen Schulwesens, die Kindern Not und Schädigung bringen. Wie dringend möchte man jetzt, wo es uns, äußerlich gesehen, „wieder so gut geht“, hoffen, daß die Menschenkunde Rudolf Stemers, die von ihm vermittelte Erkenntnis der kindlichen Wachstumsgesetze, stärker in das allgemeine Bewußtsein übergeht, um vermeidbare Schäden von einer Kindergeneration fernzuhalten, die gewiß noch vor gewaltige notvolle Lebensschicksale gestellt sein wird. Nachdem wir nun den vollen Aufbau einer zwölfklassigen Rudolf-Steiner-Schule glücklich erreicht haben, wird es unser inniges Bemühen sein, die uns anvertraute Jugend so zu führen, daß sie aus dem umhegten Hamborner Jugendland Kräfte mitnimmt, die sie befähigt, den schweren Lebensanforderungen unserer Zeit in Freiheit und mit innerster Verantwortung entgegenzutreten.
„Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr!“ heißt es im Märchen, das Goethe vor 160 Jahren im Jenaer „Paradies“ zu Füßen des Lauenstein konzipierte. Möge die Segenskraft solcher bildenden Liebe weiter walten können auch in kommenden Zeiten.            

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